Durchsetzung des Wohls und der Rechte von Pflegekindern oder Aufgabe bislang geltender Maßstäbe zum Schutz ihrer Bindungen und zur Sicherung der Kontinuität in der Erziehung?
Akademie und Beratungszentrum für Pflege- und Adoptivfamilien und Fachkräfte Baden-Württemberg e.V. und der Landesverband KiAP Baden-Württemberg e.V. haben zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 1 BvR 1088/23 vom 28.08.2023 sowie zur Pressemitteilung des BVerfG Nr. 79/2023 vom 07.09.2023 eine Stellungnahme veröffentlicht.
Mit Beschluss vom 28.8.2023 (1 BvR 1088/23) hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von langjährigen Pflegeeltern nicht zur Entscheidung angenommen. Die Pflegeeltern wandten sich ans BVerfG, weil sie in den Vorinstanzen, d.h. beim Familiengericht Regensburg und beim Oberlandesgericht Nürnberg, die Rückführung ihres unstrittig eng an sie gebundenen Pflegekindes erreichen wollten, jedoch erfolglos blieben.
Zur Vorgeschichte:
Der Junge M. kam mit 5 Monaten in die Pflegefamilie und entwickelte sich dort gemäß der Berichte des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) sowie des behandelnden Kinderarztes nachweislich gut – trotz vorhandener Entwicklungsverzögerungen, die auf den Drogenkonsum seiner Mutter zurückzuführen sind. Konflikte zwischen Pflegeeltern und Fachkräften ergaben sich insbesondere nach einem Kindergartenwechsel beziehungsweise im Zusammenhang mit dem Umgang mit vorhandenen Verhaltensauffälligkeiten des Jungen. Sowohl der Vormund als auch das Jugendamt sahen die Pflegeeltern in der Folge mit der Betreuung und Erziehung des Kindes zunehmend überfordert und konstatierten in diesem Zusammenhang, bei den Pflegeeltern läge eine mangelnde Einsicht in die besonderen Bedürfnisse des Kindes vor und es sei auch keine ausreichende Kooperationsbereitschaft bei ihnen vorhanden. Die Konflikte eskalierten und mündeten schließlich in ein Herausgabeverlangen des Vormunds, das zur Unterbringung des Kindes in einer „professionellen“ Pflegefamilie führte. Zu diesem Zeitpunkt hat der Junge vier Jahre in seiner Pflegefamilie gelebt.
Das Herausgabeverlangen begründeten die Fachkräfte folgendermaßen:
Die Vormündin argumentierte, dass trotz des sehr langen Aufenthalts des Kindes in der Pflegefamilie dessen Herausnahme erforderlich sei, um weiteren Schaden vom Kind abzuwenden.
Das Jugendamt hat vorgetragen, dass aufgrund der massiven Belastung der bisherigen Pflegeeltern ein Verbleib in deren Familie für das Kind perspektivisch schädlich sei. Trotz der entstandenen Bindung zwischen ihnen und dem Kind müsse dieser schwierige Schritt unternommen werden, um dem Jungen geeignete Bedingungen zu ermöglichen, sich positiv zu entwickeln. Ein Wechsel des Kindes in eine professionelle Pflegefamilie müsse daher erfolgen, um ihm bedarfsgerechte Bedingungen für eine positive Entwicklung zu ermöglichen.
Das Familiengericht Regensburg weist in der Folge den Antrag der Pflegeeltern auf Rückführung in ihren Haushalt zurück.
Daraufhin legen sowohl die Pflegeeltern als auch die leibliche Mutter im März 2023 Beschwerde beim OLG Nürnberg ein. Die Mutter erklärt, sie sei schockiert darüber, dass ihr Sohn aus der Pflegefamilie herausgerissen werden solle. Die Familie sei bisher vom Jugendamt gelobt worden. Sie wünsche sich eine Rückkehr des Kindes in die bisherige Pflegefamilie, damit ihr Sohn dort aufwachsen könne ohne geschädigt zu werden. Die Beschwerde der Pflegeeltern wird mit Beschluss zurückgewiesen; gleichzeitig verweist das OLG auf das anhängige Hauptsacheverfahren.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
In der Folge rufen die Pflegeeltern das Bundesverfassungsgericht an, das jedoch den Antrag zurückweist. In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.09.2023 wird der Beschluss der Nichtannahme zur Entscheidung u.a. begründet mit dem Wohl des Kindes und der Stärkung seiner Rechte. Wörtlich heisst es hierzu: „Bei einem Wechsel von einer Pflegefamilie in eine andere kommt es maßgeblich auf das Wohl des Kindes an. Ist zu erwarten, dass diesem mit einem Wechsel der Pflegefamilie trotz des Bindungsabbruchs zu den bisherigen Pflegeeltern eher gedient ist, setzen sich die Interessen des Kindes gegen die seiner vormaligen Pflegeeltern durch.“
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt einen gravierenden Bruch mit der bislang gültigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage eines Pflegestellenwechsels dar (vgl. hierzu auch die Einschätzung der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes - Schützt das Bundesverfassungsgericht Pflegekinder nicht mehr? Sind Pflegekinder „Kinder 2. Klasse“? von Prof. Dr. jur. Ludwig Salgo und Rechtsanwalt Peter Hoffmann, 22.09.2023).
Nach der wichtigen Entscheidung BVerfGE 75, 201 des Bundesverfassungsgerichts hat die Trennung von Kleinkindern von ihren unmittelbaren Bezugspersonen (Pflegeeltern) unbestritten als ein Vorgang mit erheblicher psychischer Belastung für das Kind und mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko zu gelten (a.a.O., Rn. 57). Ein Wechsel von einer Pflegestelle in eine andere ist daher nur zulässig, „wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen und physischen Schädigungen verbunden sein kann.“ (a.a.O., Rn. 57; bei einem Wechsel in die Herkunftsfamilie gelten andere Maßstäbe.)
Nach dem hier formulierten Maßstab wäre eine Herausnahme eines fest an die Pflegeeltern gebundenen, seit längerem bei ihnen lebenden Kindes, um es in einer anderen Pflegefamilie unterzubringen, nicht möglich ohne zwingenden Grund, das
heisst, ohne dass das Wohl des Kindes konkret gefährdet wäre. Damit hat die Rechtsprechung dem Kontinuitätsbedürfnis der Minderjährigen Rechnung getragen.
An den gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegeeltern besteht im vorliegenden Fall bei allen Beteiligten kein Zweifel, auch nicht daran, dass eine Herausnahme des Kindes und der damit einhergehende Bindungsabbruch eine schwerwiegende Belastung für das Kind und ein erhebliches Entwicklungsrisiko für den Jungen darstellt.
Im nunmehr ergangenen Beschluss (1 BvR 1088/23) stellt das BVerfG allerdings fest, es käme gar nicht „darauf an, ob das Kind bei einem Verbleib in dem beziehungsweise bei einer Rückführung in den Haushalt der Beschwerdeführenden konkret gefährdet … wäre“. Dies müsse bei einer Herausnahme des Kindes auch nicht geprüft werden, sondern es müsse lediglich eine Abwägung erfolgen zu der Frage, „ob die mögliche Gefährdung durch die Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie gegenüber einer prognostisch erheblicheren Gefährdung im Fall des Verbleibs zurücktrete.“
Im vorliegenden Fall wurde der Bindungsabbruch des Kindes zu seinen einzigen und wichtigsten Bezugspersonen insbesondere auch auf der Grundlage folgender Einschätzung herbeigeführt: „Die Vormündin des Kindes und das Jugendamt befürchteten wegen der besonderen Bedürfnisse des Kindes eine Überforderung der bisherigen Pflegeeltern mit seiner Erziehung.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr.79/2023, 07.09.2023) wie hier eine derart gravierende Entscheidung, nämlich der Wechsel der Pflegefamilie, vorrangig auf Befürchtungen von Fachkräften, die sich auf zukünftige Erwartungen beziehen, gestützt, werden nicht nur rechtliche Grundlagen missachtet, sondern darüberhinaus auch gesicherte Erkenntnisse der Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie nicht angemessen beachtet.
Die Trennung des Kindes von seinen langjährigen und engen Bezugspersonen wird hier vorgenommen mit dem Argument, das Kind erhalte durch eine Unterbringung in einer „professionellen“ Pflegestelle „optimale“ Erziehungsbedingungen und diene somit dem Wohl des Kindes. Die Interessen und die Rechte des Kindes würden auf diese Weise gewahrt und müssten sich gegen die Interessen seiner vormaligen Pflegeeltern durchsetzen.
Diese Behauptung einer bestehenden Konfliktlage zwischen Kind und Pflegeeltern in der hier vorgenommenen Weise ist reine Konstruktion. Der Antrag der Pflegeeltern auf Rückführung sollte gerade das Wohl des Kindes sichern, insbesondere durch die Gewährleistung der Kontinuität in der Erziehung und den Schutz der gewachsenen Bindungen. Denn der Abbruch einer gewachsenen Bindung, die durch das tägliche Miteinander entstanden ist und unmittelbar als spezifische seelisch-geistige Beziehung erlebt wird, stellt für ein Pflegekind ein existentielles und gravierendes Unglück dar, das unbedingt vermieden werden sollte. Der Zusammenhang zwischen Abbruch eines Pflegeverhältnisses und dem Auftreten bzw. der Zunahme von Verhaltensauf-fälligkeiten bei Kindern ist durch zahlreiche empirische Studien sehr gut belegt. Wechsel sind danach u.a. vielfach verbunden mit emotionalen oder psycho-somatischen Einschränkungen, Vertrauensverlust in Beziehungen und sozialem Rückzug. (Diouani-Streek, Mériem: Kontinuität im Kinderschutz – Perspektivplanung für Pflegekinder, 2015, S.112 ff.)
Der Junge, um den es hier geht, hat bis auf die ersten fünf Monate sein ganzes Leben in der Pflegefamilie verbracht. Durch die Herausnahme des Kindes ohne Not, verliert das Kind seine ganze Welt. Ohne Not deswegen, weil eine Kindeswohlgefährdung im Sinne der stetigen Definition des BVerfG, die eine solche Herausnahme begründen würde, nicht vorliegt.
Ganz offenkundig hat es jedoch an professioneller Unterstützung und Begleitung der Pflegefamilie für ihre anspruchsvolle Aufgabe durch das Jugendamt gemangelt. Offenbar wurde weder ein Kindergartenwechsel in Erwägung gezogen noch findet sich etwas zu konkreten Hilfe- und Entlastungsangeboten.
Der Anspruch des gut in die Pflegefamilie integrierten Kindes gegen den Staat auf Sicherung und Durchsetzung seiner Rechte, u.a. Kontinuität in der Erziehung, Schutz der gewachsenen Bindungen, Vorrang des Wohls des Kindes, wurde gerade nicht eingelöst.
Denn die Entscheidung des BVerfG führt aus, es wäre keine konkrete Kindeswohlgefährdung zu prüfen, wie sie für die Trennung von Kindern von ihren leiblichen Eltern auf der Grundlage von §§ 1666 und 1666a BGB erforderlich wäre. Sind Pflegekinder also rechtlich weniger Wert als leibliche Kinder?
Die vorliegende Entscheidung des BVerfG bedeutet eine Absenkung des Schutzes von Pflegekindern in ihrer Pflegefamilie, weil Kinder danach – im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung - ohne konkrete Prüfung einer Gefährdung aus ihrer Pflegefamilie genommen werden können.
Die Rechte und der Schutz eines Kindes sind jedoch unteilbar. Rechte und Schutz des Kindes relativieren sich nicht dadurch, dass sich das Kind in einer Pflegefamilie befindet.
Vor dem Hintergrund des Dargestellten stellt sich die Frage, ob es hier tatsächlich um die Durchsetzung des Wohls und der Rechte eines Pflegekindes geht oder ob der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht viel mehr eine Aufgabe bislang geltender Maßstäbe darstellt?
Stuttgart, 04.10.2023
Dr. Ulrike Bischof - Vorsitzende Akademie und Beratungszentrum für und Adoptivfamilien und Fachkräfte Baden-Württemberg e.V. - https://www.pflege-adoptivfamilien.de/
Claudia Kobus - Vorsitzende Landesverband KiAP Baden-Württemberg e.V. I Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien
Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23 –
Eine kritische Kommentierung von Rechtsanwalt Peter Hoffmann und Prof. Dr. jur. Ludwig Salgo zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der dazugehörenden Pressemitteilung vom 7.09.2023. zur Herausnahme eines Pflegekindes aus seiner Pflegefamilie.
Das Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde von Pflegeeltern, die sich gegen den Wechsel ihres langjährigen Pflegekindes in eine andere Pflegefamilie wenden, nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Akademie- und Beratungszentrum für Pflege- und Adoptivfamilien und Fachkräfte in Baden-Württemberg hat seine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) veröffentlicht.
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Durchsetzung des Wohls und der Rechte von Pflegekindern oder Aufgabe bislang geltender Maßstäbe zum Schutz ihrer Bindungen und zur Sicherung der Kontinuität in der Erziehung?
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Mit Beschluss vom 28.8.2023 (1 BvR 1088/23) hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde von langjährigen Pflegeeltern nicht zur Entscheidung angenommen. Die Pflegeeltern wandten sich ans BVerfG, weil sie in den Vorinstanzen, d.h. beim Familiengericht Regensburg und beim Oberlandesgericht Nürnberg, die Rückführung ihres unstrittig eng an sie gebundenen Pflegekindes erreichen wollten, jedoch erfolglos blieben.
Zur Vorgeschichte:
Der Junge M. kam mit 5 Monaten in die Pflegefamilie und entwickelte sich dort gemäß der Berichte des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) sowie des behandelnden Kinderarztes nachweislich gut – trotz vorhandener Entwicklungsverzögerungen, die auf den Drogenkonsum seiner Mutter zurückzuführen sind. Konflikte zwischen Pflegeeltern und Fachkräften ergaben sich insbesondere nach einem Kindergartenwechsel beziehungsweise im Zusammenhang mit dem Umgang mit vorhandenen Verhaltensauffälligkeiten des Jungen. Sowohl der Vormund als auch das Jugendamt sahen die Pflegeeltern in der Folge mit der Betreuung und Erziehung des Kindes zunehmend überfordert und konstatierten in diesem Zusammenhang, bei den Pflegeeltern läge eine mangelnde Einsicht in die besonderen Bedürfnisse des Kindes vor und es sei auch keine ausreichende Kooperationsbereitschaft bei ihnen vorhanden. Die Konflikte eskalierten und mündeten schließlich in ein Herausgabeverlangen des Vormunds, das zur Unterbringung des Kindes in einer „professionellen“ Pflegefamilie führte. Zu diesem Zeitpunkt hat der Junge vier Jahre in seiner Pflegefamilie gelebt.
Das Herausgabeverlangen begründeten die Fachkräfte folgendermaßen:
Die Vormündin argumentierte, dass trotz des sehr langen Aufenthalts des Kindes in der Pflegefamilie dessen Herausnahme erforderlich sei, um weiteren Schaden vom Kind abzuwenden.
Das Jugendamt hat vorgetragen, dass aufgrund der massiven Belastung der bisherigen Pflegeeltern ein Verbleib in deren Familie für das Kind perspektivisch schädlich sei. Trotz der entstandenen Bindung zwischen ihnen und dem Kind müsse dieser schwierige Schritt unternommen werden, um dem Jungen geeignete Bedingungen zu ermöglichen, sich positiv zu entwickeln. Ein Wechsel des Kindes in eine professionelle Pflegefamilie müsse daher erfolgen, um ihm bedarfsgerechte Bedingungen für eine positive Entwicklung zu ermöglichen.
Das Familiengericht Regensburg weist in der Folge den Antrag der Pflegeeltern auf Rückführung in ihren Haushalt zurück.
Daraufhin legen sowohl die Pflegeeltern als auch die leibliche Mutter im März 2023 Beschwerde beim OLG Nürnberg ein. Die Mutter erklärt, sie sei schockiert darüber, dass ihr Sohn aus der Pflegefamilie herausgerissen werden solle. Die Familie sei bisher vom Jugendamt gelobt worden. Sie wünsche sich eine Rückkehr des Kindes in die bisherige Pflegefamilie, damit ihr Sohn dort aufwachsen könne ohne geschädigt zu werden.
Die Beschwerde der Pflegeeltern wird mit Beschluss zurückgewiesen; gleichzeitig verweist das OLG auf das anhängige Hauptsacheverfahren.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
In der Folge rufen die Pflegeeltern das Bundesverfassungsgericht an, das jedoch den Antrag zurückweist. In der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.09.2023 wird der Beschluss der Nichtannahme zur Entscheidung u.a. begründet mit dem Wohl des Kindes und der Stärkung seiner Rechte. Wörtlich heisst es hierzu: „Bei einem Wechsel von einer Pflegefamilie in eine andere kommt es maßgeblich auf das Wohl des Kindes an. Ist zu erwarten, dass diesem mit einem Wechsel der Pflegefamilie trotz des Bindungsabbruchs zu den bisherigen Pflegeeltern eher gedient ist, setzen sich die Interessen des Kindes gegen die seiner vormaligen Pflegeeltern durch.“
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt einen gravierenden Bruch mit der bislang gültigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage eines Pflegestellenwechsels dar (vgl. hierzu auch die Einschätzung der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes - Schützt das Bundesverfassungsgericht Pflegekinder nicht mehr? Sind Pflegekinder „Kinder 2. Klasse“? von Prof. Dr. jur. Ludwig Salgo und Rechtsanwalt Peter Hoffmann, 22.09.2023).
Nach der wichtigen Entscheidung BVerfGE 75, 201 des Bundesverfassungsgerichts hat die Trennung von Kleinkindern von ihren unmittelbaren Bezugspersonen (Pflegeeltern) unbestritten als ein Vorgang mit erheblicher psychischer Belastung für das Kind und mit einem schwer bestimmbaren Zukunftsrisiko zu gelten (a.a.O., Rn. 57). Ein Wechsel von einer Pflegestelle in eine andere ist daher nur zulässig, „wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen und physischen Schädigungen verbunden sein kann.“ (a.a.O., Rn. 57; bei einem Wechsel in die Herkunftsfamilie gelten andere Maßstäbe.)
Nach dem hier formulierten Maßstab wäre eine Herausnahme eines fest an die Pflegeeltern gebundenen, seit längerem bei ihnen lebenden Kindes, um es in einer anderen Pflegefamilie unterzubringen, nicht möglich ohne zwingenden Grund, das
heisst, ohne dass das Wohl des Kindes konkret gefährdet wäre. Damit hat die Rechtsprechung dem Kontinuitätsbedürfnis der Minderjährigen Rechnung getragen.
An den gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegeeltern besteht im vorliegenden Fall bei allen Beteiligten kein Zweifel, auch nicht daran, dass eine Herausnahme des Kindes und der damit einhergehende Bindungsabbruch eine schwerwiegende Belastung für das Kind und ein erhebliches Entwicklungsrisiko für den Jungen darstellt.
Im nunmehr ergangenen Beschluss (1 BvR 1088/23) stellt das BVerfG allerdings fest, es käme gar nicht „darauf an, ob das Kind bei einem Verbleib in dem beziehungsweise bei einer Rückführung in den Haushalt der Beschwerdeführenden konkret gefährdet … wäre“. Dies müsse bei einer Herausnahme des Kindes auch nicht geprüft werden, sondern es müsse lediglich eine Abwägung erfolgen zu der Frage, „ob die mögliche Gefährdung durch die Herausnahme aus der bisherigen Pflegefamilie gegenüber einer prognostisch erheblicheren Gefährdung im Fall des Verbleibs zurücktrete.“
Im vorliegenden Fall wurde der Bindungsabbruch des Kindes zu seinen einzigen und wichtigsten Bezugspersonen insbesondere auch auf der Grundlage folgender Einschätzung herbeigeführt: „Die Vormündin des Kindes und das Jugendamt befürchteten wegen der besonderen Bedürfnisse des Kindes eine Überforderung der bisherigen Pflegeeltern mit seiner Erziehung.“ (BVerfG, Pressemitteilung Nr.79/2023, 07.09.2023) wie hier eine derart gravierende Entscheidung, nämlich der Wechsel der Pflegefamilie, vorrangig auf Befürchtungen von Fachkräften, die sich auf zukünftige Erwartungen beziehen, gestützt, werden nicht nur rechtliche Grundlagen missachtet, sondern darüberhinaus auch gesicherte Erkenntnisse der Bindungsforschung und Entwicklungspsychologie nicht angemessen beachtet.
Die Trennung des Kindes von seinen langjährigen und engen Bezugspersonen wird hier vorgenommen mit dem Argument, das Kind erhalte durch eine Unterbringung in einer „professionellen“ Pflegestelle „optimale“ Erziehungsbedingungen und diene somit dem Wohl des Kindes. Die Interessen und die Rechte des Kindes würden auf diese Weise gewahrt und müssten sich gegen die Interessen seiner vormaligen Pflegeeltern durchsetzen.
Diese Behauptung einer bestehenden Konfliktlage zwischen Kind und Pflegeeltern in der hier vorgenommenen Weise ist reine Konstruktion. Der Antrag der Pflegeeltern auf Rückführung sollte gerade das Wohl des Kindes sichern, insbesondere durch die Gewährleistung der Kontinuität in der Erziehung und den Schutz der gewachsenen Bindungen. Denn der Abbruch einer gewachsenen Bindung, die durch das tägliche Miteinander entstanden ist und unmittelbar als spezifische seelisch-geistige Beziehung erlebt wird, stellt für ein Pflegekind ein existentielles und gravierendes Unglück dar, das unbedingt vermieden werden sollte. Der Zusammenhang zwischen Abbruch eines Pflegeverhältnisses und dem Auftreten bzw. der Zunahme von Verhaltensauf-fälligkeiten bei Kindern ist durch zahlreiche empirische Studien sehr gut belegt. Wechsel sind danach u.a. vielfach verbunden mit emotionalen oder psycho-somatischen Einschränkungen, Vertrauensverlust in Beziehungen und sozialem Rückzug. (Diouani-Streek, Mériem: Kontinuität im Kinderschutz – Perspektivplanung für Pflegekinder, 2015, S.112 ff.)
Der Junge, um den es hier geht, hat bis auf die ersten fünf Monate sein ganzes Leben in der Pflegefamilie verbracht. Durch die Herausnahme des Kindes ohne Not, verliert das Kind seine ganze Welt. Ohne Not deswegen, weil eine Kindeswohlgefährdung im Sinne der stetigen Definition des BVerfG, die eine solche Herausnahme begründen würde, nicht vorliegt.
Ganz offenkundig hat es jedoch an professioneller Unterstützung und Begleitung der Pflegefamilie für ihre anspruchsvolle Aufgabe durch das Jugendamt gemangelt. Offenbar wurde weder ein Kindergartenwechsel in Erwägung gezogen noch findet sich etwas zu konkreten Hilfe- und Entlastungsangeboten.
Der Anspruch des gut in die Pflegefamilie integrierten Kindes gegen den Staat auf Sicherung und Durchsetzung seiner Rechte, u.a. Kontinuität in der Erziehung, Schutz der gewachsenen Bindungen, Vorrang des Wohls des Kindes, wurde gerade nicht eingelöst.
Denn die Entscheidung des BVerfG führt aus, es wäre keine konkrete Kindeswohlgefährdung zu prüfen, wie sie für die Trennung von Kindern von ihren leiblichen Eltern auf der Grundlage von §§ 1666 und 1666a BGB erforderlich wäre. Sind Pflegekinder also rechtlich weniger Wert als leibliche Kinder?
Die vorliegende Entscheidung des BVerfG bedeutet eine Absenkung des Schutzes von Pflegekindern in ihrer Pflegefamilie, weil Kinder danach – im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung - ohne konkrete Prüfung einer Gefährdung aus ihrer Pflegefamilie genommen werden können.
Die Rechte und der Schutz eines Kindes sind jedoch unteilbar. Rechte und Schutz des Kindes relativieren sich nicht dadurch, dass sich das Kind in einer Pflegefamilie befindet.
Vor dem Hintergrund des Dargestellten stellt sich die Frage, ob es hier tatsächlich um die Durchsetzung des Wohls und der Rechte eines Pflegekindes geht oder ob der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht viel mehr eine Aufgabe bislang geltender Maßstäbe darstellt?
Stuttgart, 04.10.2023
Dr. Ulrike Bischof - Vorsitzende Akademie und Beratungszentrum für und Adoptivfamilien und Fachkräfte Baden-Württemberg e.V. - https://www.pflege-adoptivfamilien.de/
Claudia Kobus - Vorsitzende Landesverband KiAP Baden-Württemberg e.V. I Kinder in Adoptiv- und Pflegefamilien
von:
Schützt das Bundesverfassungsgericht Pflegekinder nicht mehr? Sind Pflegekinder „Kinder 2. Klasse“?
Bundesverfassungsgericht, Kammerentscheidung vom 28.08.2023 – 1 BvR 1088/23 –
von:
Erfolglose Verfassungsbeschwerde von langjährigen Pflegeeltern eines fünfjährigen Kindes gegen dessen Wechsel in eine andere Pflegefamilie