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17.11.2023
Erfahrungsbericht

Sara, das Mädchen, das überall zuhause war.

Der Bericht einer Bereitschaftspflegemutter zur Entwicklung des Kindes während der Zeit der Bereitschaftspflege.

Im Alter von 3 ¼ Jahren kam Sara zu uns, nachdem ihre Mutter sie der Sozialarbeiterin ins Büro gebracht hatte mit etwa den Worten „Hier haben Sie die, ich kann nicht mehr! Die will ich nicht wiederhaben, ich behalt nur den Jungen, der ist lieb!“ Der Junge war Saras älterer Bruder. Sie brachte nichts mit außer ihrer ‚Teepulla’ und einer schmuddelig geliebten Stoffpuppe. Beides fest umklammernd kam sie gleich auf meinen Schoß, sie war sofort zuhause.

Sara war ein liebenswertes „Powergirl“. Sie war von früh bis spät in Aktion. Unser Wohnzimmer, fast 10 Meter lang, wurde zur ‚Renn-strecke’ von der Haustür vorn bis zur Terrassentür hinten, hin und her, hin und her. Durch Bitten oder Schimpfen konnten wir sie nicht daran hindern. Also sperrten wir zeitweise die Engstelle zwischen Couch und Sessel, indem wir etwas dazwischen stellten. Nach einigen Wochen nahm sie selbst diese Absperrung vor, wenn sie am Blick meines Mannes merkte, dass ihr Gerenne ihn anstrengte. Polstermöbel wurden zu Trampolins, Verbote nützten auch hier nichts. Schließlich mussten wir die freistehende Couch mit einem großen Karton blockieren, nachdem Sara zum zweiten mal im hohen Bogen über die Rückenlehne auf die Fliesen geknallt war.

Sara war nicht nur von der ersten Minute an bei uns zuhause, sondern ging auch mit jedem mit, der ihr das anbot. Unsere Töchter nahmen sie gelegentlich mit zum Spielplatz und verschafften uns so etwas Ruhe zum Atemholen. Als sie sich aber bei einem Tagesausflug nach Holland am Strand einem fremden Paar anschloss und uns einfach zurückließ, waren nicht nur die sondern auch wir irritiert. Ein andermal stieg ich mit ihr in eine volle Straßenbahn, setzte mich auf den einzigen freien Platz neben einem Schwarzafrikaner und nahm sie auf den Schoß. Aber Sara hatte keinerlei Angst vor dem tiefschwarzen Mann sondern betrachtete ihn interessiert und sah dann ihre Hände an, von außen und von innen, sah auf seine Hände und wieder auf ihre. Durch das Drehen ihrer Hände wurde auch der Mann auf sie aufmerksam. Er erklärte ihr, dass seine Haut sich durch die dunkle Farbe vor der heißen Sonne in seiner Heimat schützt, weil man aber die Hände oft geschlossen hat brauchen die sich innen nicht schützen. Sara durfte seine Hände anfassen um zu sehen, dass sie nicht abfärben. Dann waren wir am Ziel, der Mann aber blieb sitzen. Sara hielt sich fest und wollte mit ihm weiterfahren, ich musste ein schreiendes und zappelndes Kind aus der Bahn tragen.

Wir haben Sara nur einmal ängstlich erlebt: bei einem Waldspaziergang umklammerte sie fest die Hände von meinem Mann und mir und zog uns zurück zum Auto. Im Menschengewühl der Geschäftsstraßen fühlte sie sich wohl. Wenn ich allein mit ihr einkaufen ging, konnte ich sie nicht ständig an der Hand halten. Um sie zu hören, wenn sie mal meinen Blicken entschwand, hatte ich an ihrem Anorak zwei Glöckchen befestigt. Beim Bezahlen an der Kasse band ich sie außerdem mit einer Schlaufe an meiner Kleidung an, was sie nach anfänglichem Zerren auch akzeptierte. Als sie mich einmal ganz lieb bat „bitte losmachen, bin doch lieb“ gab ich nach bevor ich die gekauften Sachen im Rucksack verstaut hatte. Ich sah noch, wie sie zum Ausgang lief und nach links in die Geschäftsstraße einbog. Ich beeilte mich ihr zu folgen. Ich fand sie aber weder im Menschengewimmel auf der Straße noch hatten Verkäuferinnen sie in den anliegenden Geschäften gesehen. Nach etwa halbstündiger vergeblicher Suche habe ich die Polizei angerufen, und nachdem ich Sara beschrieben hatte, hörte ich erleichtert „Die haben wir schon hier“. Sie war am Ende der Straße – jedoch genau entgegengesetzt wie ich sie hatte laufen sehen – einem Ehepaar mit Pommes in der Hand ‚zugelaufen’ um auch Pommes zu bekommen. Diese Leute hatten die Polizei gerufen, da sie dem Kind weder Pommes kaufen noch sie mitnehmen wollten. Nachdem ich Sara bei der Polizei abgeholt hatte, bin ich mit ihr direkt in die nächste Tierhandlung und kaufte eine ‚Hundemarke’ mit unserer Telefonnummer für Sara. Sie hat das Kettchen stolz getragen und allen erzählt, dass sie es bekommen habe weil sie bei der Polizei war.

Saras erste potentielle Pflegeeltern waren ein kinderloses Ehepaar, sie Erzieherin im Kindergarten, also geübt im Umgang mit Kindern. Sara mochte beide und freute sich immer auf ihren Besuch. Als wir nach einigen Kontakten bei uns zuhause gemeinsam in den Zoo gingen, kümmerte Sara sich weder um die Tiere noch um ihren Besuch, noch um mich. Sie schloss sich jeweils den Familien an, wo Eltern ihren Kindern Süßigkeiten oder Essen/Trinken gaben. Wir haben sie zurückgeholt, aber kurze Zeit später war sie wieder bei anderen fremden Familien. Als sie dann auf dem Spielplatz auch noch ablehnte, sich von ihrem Besuch helfen zu lassen, beendeten wir ziemlich genervt den Zoobesuch. Sara kümmerte das nicht, sie hatte mal wieder ihre Stärke gezeigt.

Da sie über die Mutter wohl immer gesiegt hatte, versuchte sie das auch bei mir. Als ich ihr beim Mittagessen – sie aß gerade ihr Leibgericht ‚Nudeln mit Tomatensoße’ – erzählte, dass ihr Besuch gleich wiederkommen würde, aß sie schnell auf. Nur die letzte Portion behielt sie im Mund und sie blieb auch am Tisch sitzen. Sie wusste, bei mir durfte sie erst aufstehen wenn sie aufgegessen hatte. Ich aß zu ende und räumte den Tisch ab, in der Erwartung, dass sie jetzt oder spätestens bei Erscheinen ihres Besuches den Rest im Mund herunterschlucken würde. Aber das geschah nicht. Sie ließ sich auch weder von mir noch von ihrem Besuch dazu überreden. Die Besucher gingen zunächst wieder um einzukaufen und versprachen danach wiederzukommen um mit ihr zu spielen. Sie kamen wieder, Saras Mund war und wurde nicht leer. Wir Erwachsenen setzten uns in den Garten. Sara folgte kurz darauf, aber auf meine Frage nach dem leeren Mund setzte sie sich gleich wieder auf ihren Platz am Tisch. Nach gut einer Stunde Warten und Bemühen verabschiedete sich der Besuch, Sara konnte mit ihrem vollen Mund nicht mal „Tschüß“ sagen. Es wurde Abendbrotzeit und ich stellte Saras Lieblingswurst auf den Tisch, auch das hatte keine Wirkung auf den Essensrest im Mund. Mein Mann konnte das ‚Gequäle’, wie er es nannte, nicht länger ansehen und zog sich zurück, Sara konnte ihm nicht Gute Nacht sagen. Ich wollte ihr helfen und schob ihr ein Stück Schokolade zwischen die Lippen. Sie schleuderte diese aber wütend über den Tisch und schluckte nicht. Sara wurde sichtlich müder. Gegen 9 Uhr nahm ich sie auf den Schoß, sagte ihr, dass ich sie gern ins Bett bringen möchte weil sie müde ist, dass sie aber beim Schlafen kein Essen im Mund haben darf, damit sie sich nicht verschluckt und bot ihr an, den Rest in ein Taschentuch zu spucken. Sie nahm das Taschentuch, knüllte es ganz klein zusammen und setzte sich darauf. Gegen 11.15 Uhr abends war sie so müde, dass sie den Mund nicht mehr fest schließen konnte und der Essensrest herauslief. Als ich sie dann in ihr Bett trug, drückte sie mich plötzlich so fest, wie sie es nie zuvor getan hatte und gab mir einen Kuss, so als wolle sie sich bedanken, dass ich ihren Kampf mit mir zugelassen hatte. Am nächsten Morgen fragte Saras Besuch telefonisch nach wie es weitergegangen war. Ein paar Tage später bekam Sara dann ein Päckchen mit einem hübschen Jeanskleid, einem Brief an Sara in dem sie sich verabschiedeten und ihr alles Gute wünschten und einem Brief an mich, in dem sie ihren Entschluss die Kontakte zu beenden begründeten. Sie befürchteten, dass sie diesem starken Kind gegenüber Aggressionen entwickeln könnten und das wollten sie Sara und sich ersparen.

Eine neue Anbahnung begann nach mehrwöchiger Pause mit einem Ehepaar, das bereits einen fast erwachsenen Sohn hatte. Sie ließen Sara fast zwei Monate Zeit sie kennen zu lernen und machten bei den Besuchen bei uns und bei sich auch ihre Erfahrungen mit Saras ‚Power’. Als der Pflegevater einmal mit ihr zum Markt ging um einzukaufen, machte Sara ihm soviel Stress, dass er sie zwar nach gut 2 Stunden wieder zuhause hatte, aber nichts von den geplanten Einkäufen. Sara lebt jetzt über 6 Jahre dort. Nach zwei Besuchen in der Pflegefamilie haben wir in der Folgezeit nur losen Kontakt gehalten, denn Sara lehnte lange Zeit ab, uns zu treffen. Vor einem Jahr kam sie mit ihrer Mutter zur Nikolausfeier unserer Initiative, das hat bei ihr Erinnerungen und Fragen ausgelöst. Im letzten Herbst hat sie uns dann einmal mit ihren Eltern besucht. Sie ist nach wie vor ein sehr auffälliges Kind. Die Familie aber scheint glücklich zu sein mit ihr, sie haben sie inzwischen adoptiert. Sara wird wohl eine Therapie beginnen, da sie sich jetzt vermehrt mit sich und ihrer Geschichte beschäftigt und dabei viel Traurigkeit zeigt.

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